Dr. Matthias Marquardt Vom Natural Running zum Maximalschuh – 8. Experteninterview

8. Experteninterview

Im 8. Experteninterview „Vom Natural Running zum Maximalschuh“ spricht Dr. Matthias Marquardt über Veränderungen und Entwicklungen im Laufschuhmarkt, das Aufkommen der Maximalschuhe, Sinn und Unsinn von Pronationsstützen und wie Läufer sich vor Verletzungen schützen können. Gewohnt kritisch und scharf nimmt er kein Blatt vor den Mund – Klartext der 3. Viel Spaß dabei.


Bye, bye Natural Running?

Laufschuhkauf.de: 2012 haben wir zum Thema „Natural Running und Entwicklungen im Laufschuhmarkt“ ein Interview geführt. Was sind deiner Meinung nach seither die zentralen Veränderungen im Markt?

Dr. Matthias Marquardt: Sicherlich ist das Thema „Natural“ mittlerweile im breiten Markt angekommen. Andererseits spürt man bei den Spezialisten bereits, dass das Thema womöglich den Zenit überschritten hat. Ich sehe also eine gewisse Abkühlung bei den „new concepts“ von denen wir wohl nie genau wissen werden, wieviel tatsächlich im Running Bereich verkauft wurde und wieviel im Fashion-Bereich. Dies geht einher mit einer Rückbesinnung auf klassische Konstruktionen und Modelle.

Laufschuhkauf.de: Du siehst eine gewisse Abkühlung für das Thema Natural Running Schuhe. Worin siehst du die Gründe dafür?

Dr. Matthias Marquardt: Wahrscheinlich wurde, wie schon des Öfteren zuvor in der Laufschuhhistorie, ein Thema mit viel Potenzial dadurch verbraucht, dass es zum Heilmittel für jedermann stilisiert wurde. Und beim Thema „Natural“ liegen positive Effekte durch natürliche Bewegung und die Kräftigung der Füße eben sehr dicht beieinander mit Überlastungssyndromen durch einen unangepassten Bewegungsapparat. Und Patienten, die in fivefingers ad hoc 10 km trainierten und dann mit einer Achillesssehnenentzündung in meiner Praxis vorstellig wurden, die gab es wirklich!

Laufschuhkauf.de: War das Natural Running Thema künstlich durch die Laufschuhmarken aufgebläht worden, die irgendwann alle „den Nike Free“ nachbauen wollten, um an dessen Erfolg zu partizipieren?

Nike Free  (c) Laufschuhkauf.deDr. Matthias Marquardt: Selbst wenn das Thema überhöht wurde, so halte ich es für wenig zielführend, dafür einen Verantwortlichen zu suchen. Vielmehr ist es ja so: Trends entstehen durch unterschiedliche Einflussfaktoren. Ideen von Meinungsbildnern treffen auf Strömungen in der Laufszene und die Industrie spürt derartige Konstellationen auf und reagiert mit dem dafür adäquaten Produkt.

Ich denke, daran ist nichts Verwerfliches auszumachen, denn wir alle profitieren von innovativen Produkten. Und die haben wir durch wichtige neue Modelle und eine Vielzahl an unterschiedlichen Fersensprengungen in der breiten Produktpalette auch erhalten. Allein das ist schon ein wichtiger Erfolg. Schließlich wurde das Thema Fersensprengung vor 10 Jahren noch gar nicht diskutiert.

Der Maximalschuh als Lösung aller Probleme?

Laufschuhkauf.de: Aktuell ist bereits ein Gegentrend zum Natural Running feststellbar. Der Maximalschuh kommt gerade in Mode. Wie ist deine Meinung dazu?

Dr. Matthias Marquardt: Auch ich habe das Gefühl, dass sich hier ein neuer Trend anbahnt. Die Ultraläufer haben sich auf ein vermeintlich neues Thema gestürzt und dies fällt zusammen mit der Tatsache, dass das Thema „Natural“ seinen Zenit überschritten hat. Dieser Trend wirft aber nach den in den letzten Dekaden bereits durchlaufenen Trends „Dämpfung – Pronationsstütze – natürliche Bewegung“ die Frage auf, ob wir alte Fehler nun erneut begehen. Und eine Überbetonung der Dämpfung auf Kosten von Stabilität und natürlicher Bewegung wäre in meinen Augen ein Fehler.

Laufschuhkauf.de: Widerspricht das Thema Maximalschuhe nicht allen Punkten und Argumenten die für das Thema Natural Running Schuhe ins Feld geführt wurden?

Dr. Matthias Marquardt: Wenn jetzt plötzlich argumentiert wird, dass ein Maximum an Dämpfung die Probleme der Läufer lösen wird, dann ignoriert das sicherlich die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte, die das Optimum an Dämpfung nie detektieren konnte. Und ja, ich sehe dann einen Widerspruch zum zuletzt verfolgten Thema „Natural“. Wesentlich ist aber wohl die Feststellung, dass unterschiedliche Läufer unterschiedliche Schuhe benötigen. Und wahrscheinlich war ein „Natural-Schuh“ für einen Ultraläufer nie das Optimum. Der maximalgedämpfte Quasi-Plateau-Schuh wird für die breite Masse der Läufer aber auch nicht das Ideale sein.

Maximalschuh Hoka Conquest 2 (c) Laufschuhkauf.deLaufschuhkauf.de: Hoka One One, Altra, …. selbst Asics hat es mit einem Maximalschuh versucht. Welche Marke(n) hat/haben deiner Meinung nach ein brauchbares Konzept?

Dr. Matthias Marquardt: Ich stelle fest, dass bei zahlreichen Firmen Modelle mit maximaler Dämpfung und somit dicker Zwischensohle entstanden sind, die aber über teilweise sehr flache Fersensprengungen verfügen. Dies erzeugt aber nur scheinbar eine natürliche Bewegung, denn der Vorfußbereich ist für eine Zehengrundgelenksextension, wie sie beim Barfußlaufen vorkommt, und die die Verriegelung der Fußsohle („windlass-Mechanismus“) einleitet, zu dick und somit unflexibel. Das Verheiraten von „Natural“ und Maximaldämpfung wird so also nicht funktionieren. Für eine tatsächliche Einordnung ist es mir aber noch zu früh. Ich glaube der Markt befindet sich hier gerade in einer Findungsphase.

Laufschuhkauf.de: Für wen machen Maximalschuhe deiner Meinung nach Sinn? Gibt es Läufer denen du keine Maximalschuhe empfehlen würdest?

Dr. Matthias Marquardt: Ultraläufer mit einer naturgemäß eher passiven Lauftechnik und dem Wunsch nach viel Dämpfung profitieren offenbar von dem Komfort eines solchen Schuhs. Abraten würde ich vielen anderen Läufern: Läufer, die auf normalen Streckenlängen unterwegs sind, Läufer mit aktiver Lauftechnik (zu geringes Untergrundgefühl, zu hohes Gewicht, zu unflexibel), Achillessehnenpatienten (abnehmende Bewegungskontrolle), Kniebeschwerden (zunehmende Drehmonmente im Kniegelenksbereich bei größeren Kipphebeln unter dem Fuß).

Laufschuhkauf.de:  Läufst du inzwischen selbst regelmäßig oder gelegentlich in Maximalschuhen und wenn ja welcher ist dein Favorit?

Dr. Matthias Marquardt: Ich bin den ASICS m33 gelaufen. Dieser Schuh ist maximal gedämpft und hat daher eine vergleichsweise dicke Sohle. Um ein natürliches Laufverhalten zu ermöglichen, ist die Fersensprengung mit 4 mm sehr flach gewählt. Für mich als Mittelfußläufer, der sehr reaktiv läuft und seine Füße im Fußabdruck unter Spannung hält, ist ein solcher Schuh nicht konzipiert. Aufgrund meiner aktiven Lauftechnik ziehe ich flachere, dünnere Schuhe vor. Bezüglich der Fersensprengung trifft der Schuh aber durchaus meine Vorlieben. Denn ich habe ich mich, anders als ich dies früher gedacht hätte, bei vorzugsweise 4-6 mm Fersensprengung eingependelt. Wie viele andere Läufer übrigens auch.

Komfort als Todesurteil für die Überpronation?

Laufschuhkauf.de: Passend zum Thema wurde auf dem Runners World Laufschuhsymposium zur Ispo in München der Komfort als das entscheidende Auswahlkriterium bei der Laufschuhwahl empfohlen. Wie ist deine Meinung dazu?

Dr. Matthias Marquardt: Komfort ist wichtig. Dem wird jeder zustimmen. Aber dieses Thema jetzt mit einem wissenschaftlichen Siegel zu versehen und plötzlich als neueste Erkenntnis vor sich herzutragen wirkt auf mich befremdlich. Nach dem Motto: Dämpfung, Pronationsstütze, Natural, das war gestern. Jetzt haben wir was ganz geheimnisvolles Neues: Komfort. Also bitte! Mit der Auswahl des bequemsten Schuhs alle Probleme lösen zu wollen, das ist dann wohl doch etwas einfach. Wahrscheinlich überbrücken wir damit das post-natural-Vakuum, bis zum nächsten großen Trend.

Laufschuhkauf.de: Auf zuvor genannter Veranstaltung wurde auch die „Totenmesse für die Überpronation“ gelesen. Wie ist deine Meinung? Benötigen wir überhaupt noch Laufschuhe mit Pronationsstützen oder können diese aus den Regalen verschwinden?

Pronationsstuetze (c) Brooks & Laufschuhkauf.deDr. Matthias Marquardt: Ich habe die Pronationsstütze ja bereits vor 15 Jahren scharf attackiert. Mit Argumenten, die ich in der aktuellen Diskussion durchaus wiederfinde. Das wesentliche ist das zunehmende Varusdrehmoment im Kniegelenk, das besonders bei O-beinigen Läufern auf viel zu hohe Werte ansteigt und den Kniegelenksknorpel auf der Innenseite schädigen kann.

Deshalb gibt es Kontraindikationen für diese Pronationsstützen, die der Fachhandel nach vielen Schulungen, Diskussionen und Berichten der vergangenen Jahre auch erkannt hat. So kam es, dass der Anteil von Pronationsgestützten Schuhen in den meisten Geschäften von früher 80 % mittlerweile deutlich unter 50 % gesunken ist. Wir nähern uns an einigen Verkaufsstellen den 30 %.

Ich würde mir wünschen, dass an dieser Stelle aber das Denken wieder einsetzt und nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Aus dem Elfenbeinturm heraus ist wissenschaftlich schnell hergeleitet, dass ein gesteigertes Varusdrehmoment niemals gut ist und somit die Stütze überflüssig sei. Ich empfehle denen, die das schreiben aber mal die Arbeit der Sportfachhändler, Therapeuten und Ärzte anzusehen, die tagtäglich Läufer mit Schmerzen betreuen. Was machen sie denn mit dem 85 kg Mann mit ausgeprägtem Knick-Senk-Fuß und Achillessehnenentzündung, der den Schuh auf der Medialseite komplett platt tritt? Suchen Sie da den bequemsten maximal gedämpften Schuh? Nein, sie suchen etwas Stabiles, um diesen Mann praxistauglich zu versorgen! Die, die meinten alle brauchen eine Pronationsstütze irrten genauso wie diejenigen, die jetzt meinen, keiner brauche eine Pronationsstütze!

Wie verletzungsfrei laufen?

Laufschuhkauf.de: Daran schließt sich schon fast zwangsläufig die Frage an, ob das Thema Laufschuhe als Verletzungsauslöser nicht überdramatisiert wird. Wie stehst du dazu?

Dr. Matthias Marquardt: Moderne Laufschuhe können viel. Sie vermitteln Komfort und Sicherheit für unterschiedlichste Ansprüche. Bezüglich der Verletzungsprophylaxe sage ich allerdings immer: Der beste Schuh, kann Dich im Hinblick auf die Verletzungsprophylaxe allenfalls ein kleines Bisschen besser machen. Das wichtigste sind hierfür noch immer die Abwechslung und Struktur im Training (Athletik, Regeneration, Lauf-Abc, Terrainwechsel, etc.). Ich sage aber auch: Der falsche Schuh kann Deine Situation dramatisch verschlechtern und Dich sehr anfällig für Verletzungen machen. Die richtige Schuhwahl bleibt also wichtig, auch wenn sie leider nicht zur 100 %igen Verletzungsfreiheit führen kann.

Laufschuhkauf.de: Hast du noch ein paar Tipps für die Laufschuhkauf.de Leser um verletzungsfrei zu laufen?

Meine wichtigsten Tipps lauten:

  1. Variiere Dein Training, verbessere regelmäßig deine Athletik, sowie die Lauftechnik.
  2. Wenn Du nicht Teil der Weltelite bist und 200 km/Woche trainieren musst, dann lege unbedingt lauffreie Tage ein. Laufe nicht zur Regeneration.
  3. Die Anzahl deiner Laufschuhe in Gebrauch sollte der Anzahl der Trainingseinheiten pro Woche entsprechen.
  4. Nutze kurze Barfußläufe auf Rasen nach dem Training, um Deine Füße zu kräftigen und Deine Fußgelenke zu mobilisieren.

Laufschuhkauf.de: Vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Matthias Marquardt: Ich danke.


Steckbrief Dr. Matthias Marquardt

Dr. Matthias Marquardt Portrait (c) Dr. Matthias MarquardtDr. Matthias Marquardt ist Facharzt für Innere Medizin und Chirotherapie. Neben der Inneren Medizin liegen seine Arbeitsschwerpunkte in der Versorgung von orthopädischen Überlastungserscheinungen, orthopädischer Einlagenversorgung, Bewegungsanalyse und Leistungsdiagnostik. Läufer und Triathleten begeistert Marquardt seit 15 Jahren für seine bekannten Trainingsmethoden.

Marquardt führt Schulungen für Ärzte, Physiotherapeuten und Orthopädietechniker im Bereich Sportmedizin und Bewegungsanalyse durch. Er hat 11 Bücher veröffentlicht (u. a. Natürlich Laufen und Die Laufbibel) und ist neben der Tätigkeit in seiner Praxis ein gefragter Redner, der auf mehr als 800 Seminare und Vorträge zurückblickt. Er machte 10 Jahre Leistungssport im Marathon und Ironman-Triathlon und absolvierte den Berlin-Marathon trotz großen Verletzungspechs in 2:51 Std.

Aufgrund von seiner fachlichen Expertise und seiner großen medialen Präsenz in Fit for Fun, Brigitte, Men’s Health und weiteren Medien haben die Unternehmen INTERSPORT und ASICS Dr. Marquardt für viele Jahre als Berater und Markenbotschafter verpflichtet.


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