Dr. Matthias Marquardt über Maximalschuhe, Karbonplattenracer und verletzungsfreies Laufen

10. Experteninterview

Im 10. Experteninterview spreche ich mit Dr. Matthias Marquardt über Maximalschuhe, Karbonplattenracer und verletzungsfreies Laufen. Gewohnt kritisch und scharf nimmt er kein Blatt vor den Mund – Klartext der 4.

Viel Spaß dabei!


Bye, bye Natural Running?

Laufschuhkauf.de: 2015 haben wir ein Interview zum Thema „Vom Natural Running zum Maximalschuh“ geführt. Was sind deiner Meinung nach seither die zentralen Veränderungen bzw. Entwicklungen im Markt?

Dr. Matthias Marquardt: Wir müssen feststellen, dass sich das natural-running Konzept in der Breite des Schuhmarktes nicht durchgesetzt hat. Man kann lange darüber diskutieren, wo die Gründe lagen. Für mich steht an erster Stelle, dass für ein erfolgreiches Lauftraining in derartigen Schuhen eine Gewöhnungszeit von mehreren Monaten erforderlich ist. Die Erfahrung lehrt, dass der Breitensportler eher wenig Interesse hat sich mit einem so komplizierten Trainingsaufbau zu befassen. So kam es dann bedauerlicherweise zu einem gehäuften Verletzungsaufkommen.

Maximal und Komfort – Die Lösung aller Probleme?

Maximalschuhe von Hoka (c) Laufschuhkauf.deLaufschuhkauf.de: Inzwischen sind zahlreiche Maximalschuhe auf dem deutschen Markt und Marken wie Hoka gewinnen zunehmend Marktanteile. In unserem letzten Interview hattest du die in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen ob wir nicht alte Fehler erneut begehen. Wie ist deine Einschätzung dazu?

Dr. Matthias Marquardt: Mit denen jetzt oft vertretenen Laufschuhen mit dicker Zwischensohle und Einsteifung des Vorfußes durch Karbonplatten treten einige bekannte Probleme wieder in den Fokus. So sind die Hebelkräfte im Kniegelenk durch solch voluminöse Sohlen vergrößert. Neu ist hingegen, dass ein eingesteifter Vorfußbereich die Belastung der Achillessehne signifikant erhöht. Es ist also keineswegs so, dass wir nun den Stein des Weisen gefunden hätten.

Laufschuhkauf.de: Seit mehreren Saisons ist marketingseitig auch der höhere Energiereturn der neuartigen Zwischensohlenmaterialien ein großes Thema. Wie stehst du dazu?

Ach dieser alte Hut. Selbst wenn eine Sohle stark zurückfedern würde, ist es unwahrscheinlich, dass sie dich wirklich effektiver vorwärts bringt. Laufen ist ein komplexes Zusammenspiel von Muskeln, die über Sehnen und Knochen Kräfte erzeugen. Die Energie des Laufschuhs müsste mit der richtigen Frequenz (die sich mit Körpergröße und Tempo ändert) zum exakt richtigen Zeit freigesetzt werden. Was sich für einen Läufer richtig anfühlt, kann die Kräfte des nächsten Läufers schmälern. Wie auf einem Trampolin, auf dem man etwas zu früh oder spät landet.

Neue Bestzeiten für alle dank Karbonplattenracer?

Karbonplattenracer Nike Zoom Vaporfly Next Hakonen (c) Laufschuhkauf.deLaufschuhkauf.de: Zu den Maximalschuhen gesellt sich plötzlich ein Trend bei den Wettkampfschuhen und damit in einer eher kleinen Kategorie. Nach zahlreichen Weltrekorden von Läufern mit (Nike’s) „Karbon-Wunderschuhen“ sind inzwischen fast alle Marken auf den Zug aufgesprungen. Wie schätzt du die Entwicklung ein?

Dr. Matthias Marquardt: Ich bin beeindruckt, wie viel dieser lange vermutete Effekt am Ende tatsächlich ausmachte. Ich bin aber auch irritiert, denn der Laufsport war für mich immer eine Sportart, in der Material kaum eine entscheidende Rolle spielte.

Das hat sich nun fundamental verändert. Ich bin kein Fortschrittsverweigerer, aber an dieser Stelle war mir die alte Situation lieber.

Laufschuhkauf.de:  Für wie massentauglich hältst du die typischen Vertreter? Gibt es Modelle bei denen du eine breitere Zielgruppe siehst?

Dr. Matthias Marquardt: Ich rate Hobbyjogger aufgrund der größeren Achillessehnenbelastung von diesen Schuhen ab. Ich sehe aktuell bei keinem Karbonplattenracer am Markt eine sinnvolle Ausweitung der Zielgruppe von Profis auf Hobbyjogger.

Karbonplattenracer  – Mit Vorsicht genießen!

Laufschuhkauf.de:  Sind die Wettkampfschuhe mit Karbonplatten Risiko für viele Verletzungen oder Chance zur Leistungsverbesserung?

Dr. Matthias Marquardt: Karbonplattenracer sind Chance für bessere Zeiten und Risiko für Überlastungsverletzungen. Vor allem der Achillessehne!

Laufschuhkauf.de:  Was ist beim Einsatz der Karbonplattenschuhe zu beachten?

Dr. Matthias Marquardt: Nur ambitionierte Läufer mit großer Erfahrung sollten Karbonplattenracer nutzen. Und das nur nach hinreichender Gewöhnung. Man sollte auf sich hören und auf die Reaktion von Wadenmuskulatur und Achillessehne achten. Oft empfehle ich in kritischen Fällen ein prophylaktisches Exzentriktraining für die Wadenmuskeln durchzuführen!

Wettkampfschuhe mit Karbonplatte - Karbonplattenracer (c) Laufschuhkauf.deLaufschuhkauf.de:  Nutzt du selbst Karbonplattenracer? Wenn ja welches Modell? Falls, nein warum nicht.

Dr. Matthias Marquardt: Ich trage solche Schuh nicht. Ich bin mehrfach am Vorfuß operiert worden und froh und dankbar um jeden Kilometer, den ich schmerzfrei laufen kann. Das macht demütig. Ich laufe relativ flache Schuhe mit 4-6 mm Fersensprengung und ausgefeilter Einlagenkonstruktion. Die Einsteifung des Vorfußbereichs hätte bei meinem Vorfußproblem eigentlich eine Entlastung bringen können, in der Praxis hat das aber nicht gut funktioniert.

Laufschuhkauf.de:  Wenn du dir von den Laufschuhherstellern etwas wünschen dürftest, was wäre das?

Dr. Matthias Marquardt: Schnörkellose Schuhe mit viel und wenig Fersensprengung, außerdem mit dicker und dünner Zwischensohle. Ich brauche unterschiedliche Laufschuhe, um die unterschiedlichen Läufer und Patienten optimal versorgen zu können. Es gibt nicht den perfekten Schuh für jedermann. Es gibt nur den perfekten Schuh für einen Läufer.

Typische Laufverletzungen und deren Auslöser

Knochenhautentzuendung (c) Laufschuhkauf.deLaufschuhkauf.de:  In deiner Praxis hast du täglich mit Läufern aller Leistungs- und Altersklassen zu tun. Was sind die typischen Verletzungen mit denen die Läufer vorstellig werden?

Dr. Matthias Marquardt:  In absteigender Reihenfolge würde ich folgende Verletzungen als am häufigsten aufzählen: Achillessehne, Fersensporn, Tractus, Patellasehne, Wade, Schienbeinkante, Stressfraktur. Aber der Teufel steckt in den Detailunterschieden der Diagnosen und es gibt natürlich auch die komplizierten Sachen wie ein Gänsefuß-Syndrom bei O-Bein bedingter Arthrose des Kniegelenks.

Laufschuhkauf.de:  Was sind die häufigsten Verletzungsauslöser?

Dr. Matthias Marquardt:  Diese Frage lässt sich sehr kurz beantworten: Zu schnell gesteigerte Trainingsumfänge und zu wenig Atheltiktraining!

Laufschuhkauf.de:  Wie oft spielt eine falsche / nicht optimale Einlagen- und / oder Laufschuhversorgung eine Rolle?

Dr. Matthias Marquardt: Jetzt wird mancher Läufer staunen, aber Schuhe und Einlagen spielen höchstens in 10-20 % der Fälle eine tragende Rolle bei der Beschwerdeentstehung. Wichtig sind die richtigen Schuhe natürlich trotzdem und wir wissen ja erst nach den Untersuchungen genau ob der Läufer den richtigen oder falschen Schuh hat.

Laufschuhkauf.de:  Wann würdest du zu orthopädischen Einlagen raten?

Dr. Matthias Marquardt:  Wenn ich das Problem anderes nicht lösen kann und der Läufer Schmerzen hat. Bei bestimmten Spreizfuß- und Fersenspornproblemen tritt diese Situation relativ oft auf.

Tipps zum Einstieg und Verletzungsschutz

Laufschuhkauf.de:  Was sind deine Top Tipps für verletzungsfreies Laufen?

Dr. Matthias Marquardt: 1. Steigere Dein Training langsam. Die Adaptationszeit deines Körpers ist länger als die viel zitierten drei Monate. 2. Gute Lauftechnik. Knieschmerzen sind oft mit einer schlechten Lauftechnik verknüpft. 3. Ohne Kraft aus dem Rumpf und eine stabile Beinachse bist Du zu anfällig. Zweimal pro Woche musst du ans Eisen!

Laufschuhkauf.de:  Aufgrund von Corona fangen gerade viele Menschen mit dem Laufen an. Was rätst du Einsteigern für maximalen Laufspass?

Maximal 3 Trainingseinheiten à 30 Minuten pro Woche. Die ersten 3 Monate Geh-Laufwechsel mit Laufphasen von 1 Minute und Gehpausen von zunächst 5 Minuten, die wöchentlich um 1 Minute gesenkt wird. Dann wird die Laufleistung wöchentlich um 1 Minute gesteigert, so dass man nach knapp 12 Wochen bei etwa 30 Laufminuten angelangt ist.

[Hinweis Laufschuhkauf.de: kostenlose Trainingspläne für Einsteiger findet ihr auf der Seite Matthias-Marquardt.com.]

Laufschuhkauf.de: Vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Matthias Marquardt: Ich danke.


Steckbrief Dr. Matthias Marquardt

Portrait Dr. Matthias Marquardt (c) Inger Diederich, HamburgDr. Matthias Marquardt ist Facharzt für Innere Medizin und Sportmedizin. Neben der Check-up-Medizin liegen Marquardts Arbeitsschwerpunkte in der Versorgung von orthopädischen Überlastungserscheinungen, Einlagenversorgung, Bewegungsanalyse und Leistungsdiagnostik. Hierfür wurde er auf der renommierten FOCUS-Ärzteliste 2021 zum TOP-Mediziner für Sportmedizin ernannt.

Läufer und Triathleten begeistert Marquardt seit über 15 Jahren für seine bekannten Trainingsmethoden unter MARQUARDT RUNNING. Marquardt veröffentlichte 12 Bücher (u. a. „Die Laufbibel”, Bestseller und Standardwerk des Laufsports) und ist ein gefragter Redner. Er hielt mehr als 800 Seminare und Fortbildungen. Darüber hinaus schult er Ärzte, Physiotherapeuten und Orthopädietechniker in Sportmedizin und Bewegungsanalyse.

Dr. Marquardt wurde 1977 in der Lüneburger Heide geboren. Heute lebt er mit seiner Familie in Hannover. Marquardts Bestzeit über 42,2 km beträgt 2:51 Std. Er lief die Zeit aufgrund von zahlreichen Verletzungen mit einem durchschnittlichen Trainingsumfang von 38 km/Woche.


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